Eine heiße Erzählung
Hitze
Er hatte nichts besser vor, als die langsamen Bewegungen der Insekten zu beobachten. “Wieder zähle ich die Fliegen”, dachte er. In dieser Hitze bekam er auch keine Lust auf etwas Anderes. Eins, zwei, drei - gerade kreisten drei Fliegen um die Veranda, auf der er in einer Hängematte lag. Sogar im Schatten war es so heiß, als ob die Hölle einen Tag der offenen Tür hätte. In seinem Haus gab es keine Klimaanlage. Vor 30 Jahren, als es erbaut wurde, dachte niemand, dass die Temperaturen in diesem Gebiet so hoch steigen könnten.
Unabhängig davon, was er vom Klimawandel hielt, konnte er keineswegs leugnen, dass es in seiner Kindheit angenehmer war. Damals bot der Sommer ab und zu sonnige Tage, aber diese Hitze heute ließ ihn die beerdigten Toten beneiden. Der Schweiß troff von seinem Gesicht wie bei einer größeren Anstrengung, obwohl er schon seit Stunden nur hin und wieder sein Bier gehoben hatte. Das Getränk, das zuvor eiskalt gewesen war, war schon warm und fade. Eine Welle hitzigen Nichts kam vor ihm zum Stehen und raubte ihm den Atem. Er ließ seine Gedanken wandern. “Wohin soll ich nur?”, fragte er sich, aber er konnte sich selbst keine Antwort geben. Sein Gehirn war wie gelähmt, seine Denkkraft so schwach wie die Flügel der kleinen Insekten, die herumsurrten.
Wie aus weiter Ferne hörte er das Radio, in dem man predigte, die Alten und Kranken sollten zu Hause bleiben und alle sollten viel Flüssigkeit trinken. Sein Unterhemd war schon nass vor Schweiß, seine fast leere Flasche Bier so warm, dass das Getränk ihn nicht weiter kühlte. Vielleicht sollte er über seine Zukunft nachdenken, aber er konnte es nicht. Es existierte nur dieser Tag, nur diese unerträgliche Hitze, die sich in der Nacht kaum legte.
Manchmal dachte er, das Schicksal lachte über seine Bemühungen, sein Leben in den Griff zu bekommen. Immer und immer scheiterten seine Vorhaben, vergeblich hatte er sich Mühe gegeben. Schließlich war er hier gelandet - in dem kleinen Häuschen, das einst seinen Großeltern gehörte und sein einziger Besitz war. Seine Cousins hatten auch einen Anspruch auf das Grundstück, aber sie waren schon erfolgreich, sie brauchten es nicht. Sein Geld war bald alle, eigentlich war er jetzt schon pleite. Natürlich konnte er eine einfache Arbeit in der Stadt finden, ein bisschen jobben, damit er nicht verhungerte. Wer wollte aber in dieser Hitze arbeiten?
Sein Blick wandte sich zum kleinen Gemüsegarten, der ohne Pflege war er verwildert war. Wegen der Dürre sah auch das Unkraut aus, als ob es in der Wüste gewachsen wäre. In diesem Garten konnte man keine essbaren Pflanzen ernten. Nichts anderes konnte ihn aber umsonst ernähren. Er war zu stolz, seine Eltern um Geld zu bitten. Sie hielten ihn schon seit langem für einen Versager, deshalb wollte er nichts mit ihnen zu tun haben. Insgeheim hatte er Angst, er könnte tatsächlich einer sein - das war ihm zu peinlich. Wie nennt man einen Menschen, der zu nichts taugt? Wie nennt man eine Hitze, die alles vernichtet? Wie geht es weiter - wird es wieder kühler werden oder gibt es keine Hoffnung? Es schien ihm, als ob er gestern gestorben war und sich jetzt in der Hölle befand. Sein sündhaftes Leben hatte dazu geführt, dass er hier saß und alle wichtigen Entscheidungen bereute.
Dann kam sie - wie eine Illusion in der schimmernden Luft. Sie bewegte sich sehr langsam, als ob jeder Schritt eine Herausforderung war. Ihr ganzer Körper verriet, wie sehr sie unter der Hitze litt. Der Schweiß perlte an ihrer Haut hinab, ihr Mund war leicht geöffnet, ihre Lippen trocken, der Kopf leicht gebeugt, ebenso ihr Rücken. Obwohl sie dachte, dass er eine Luftspiegelung war, sprach sie ihn an.
“Du hast Bier!”
“Wenn du zwei aus dem Kühlschrank holst, bekommst du eins umsonst.”
Die junge Frau ging in das Haus. Sie fragte nicht nach dem Weg - von weitem konnte man schon das Summen des alten Kühlschranks hören, der vergeblich gegen die Hitze kämpfte. Sie kam mit zwei Flaschen Bier zurück. Schweigend reichte sie ihm das Getränk, prostete und setzte sich auf die Treppe, um sich ein bisschen zu erholen.
“Wohin gehst du?”fragte er.
“Irgendwohin”, antwortete sie.
Er wusste nicht, ob sie einfach nur geheimnisvoll wirken wollte oder ob ihr Gehirn wegen der Hitze nicht mehr richtig funktionierte. Egal, der Geschmack des kalten Getränks ermunterte ihn ein bisschen. Er versuchte, langsam zu trinken.
“Schönes Wetter”scherzte er.
“Ja, für einen Scheiterhaufen”meinte sie.“Man braucht die Hexen nicht einmal anzuzünden - nur in die Sonne setzen und sie verbrennen von selbst.”
Sie war seltsam, aber das gefiel ihm. Er wollte sie nach ihrem Namen fragen, aber sie machte sich schon wieder auf den Weg.
“Danke für das Bier”, sagte sie nachdenklich “Vielleicht hat es mich das Leben gerettet.”
“Gern geschehen!”, sagte er und beobachtete, wie sie sich mit langsamen Schritten entfernte. Er könnte sie aufhalten. Heiße Liebe konnte er aber in dieser Hitze nicht ertragen.
Er trank das Bier Schluck für Schluck. Es wurde langsam warm und nur die drei Flaschen erinnerten an den seltsamen Besuch. Oder vielleicht hatte er sie selbst geholt und die junge Dame war nur eine Luftspiegelung. Er würde in der Stadt nach ihr fragen - hier kannten sich die Leute. Vielleicht gab es andere Tage, nicht so heiße Tage, an denen er sie wiedersah.
Aber hier und jetzt war keiner mehr auf dieser Welt - nur er und die Fliegen. Im Haus stieß eine Fliege vergeblich immer wieder gegen das Fenster, um nach draußen zu gelangen - vergeblich. Er beobachtete ihre Bemühungen. Wenn er drinnen gewesen wäre, hätte er sie auch brummen hören. Es war so leicht, eine Fliege zu töten, während sie gegen das geschlossene Fenster kämpfte. Das arme Insekt erblickte die Freiheit, ohne zu verstehen, warum diese unerreichbar war. Vielleicht kannte seine eigene Existenz im Gegensatz dazu keine Grenzen. Die Freiheit war so nah sein und trotzdem musste erst das dünne Glas zerbrochen werden.
Das Wetter veränderte sich. Die gnadenlose Sonne wurde von dunklen Wolken bedeckt. Blitz und Donner erfüllten die sommerliche Stille. Die Hitze war unerträglich, die Fliegen begannen zu beißen. Dann ergoss sich die Gnade des Himmels auf die Erde. Es regnete wie aus Kübeln. Er stand auf. Die Bierflaschen füllten sich mit Wasser. Er ging einige Schritte vor das Haus und fphlte die warmen Tropfen auf der Haut. Der Regen war so stark, dass es fast weh tat, darunter zu stehen. Er fühlte die warmen Tropfen auf der Haut. Wohin? Der Regen bildete eine Wasserwand, als ob ein dünnes Glas vor ihm läge. Er streckte die Hand aus und berührte die Grenze. Und plötzlich war sie duchgebrochen.
Fotos von:
Tobias Hämmer aus Pixabay
Petya
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Sommer Hitze Lebensentscheidung