Eine Geschichte über Sehensucht nach Meer
Die Erinnerung des Meeres
Sie war in diesem Land nicht geboren. Einst wohnte sie an einer warmen Meeresküste, in einer Strandhütte. Sie sah jeden Tag, wie die Sonne über dem Meer aufging. Dann wusste sie, dass sie schwimmen gehen konnte. Sie verbrachte den ganzen Tag im Wasser. Ihre Mutter sagte, dass ihr schon Kiemen wachsen.
Immer wenn sie zu erschöpft vom Schwimmen war, konnte sie in der Untiefe waten und Muscheln sammeln. Sie wusste damals nicht, dass sie so arm waren. Die Hütte war klein, aber gemütlich. Da ihre Mutter jeden Tag lange arbeitete, hatten sie immer etwas zum Essen. Dem Mädchen reichte, dass ihm das Meer gehörte. Deswegen wünschte sie keine teuren Sachen. Ihr ausgeblichener Badeanzug war ihr einziger Reichtum.
Damals war sie frei - jetzt fühlte sie sich gefangen. Die Besucher von einem Tisch wollten gehen, deshalb brachte sie ihnen die Rechnung. Sie haben sie gefragt, woher sie komme. Vielleicht haben die Gäste an ihrer Ansprache erkannt, dass sie eine Ausländerin war. Sie lächelte höflich. “Ich komme aus dem Meer”, wollte sie antworten.
Tatsächlich hat ihr ihre Mutter als sie jung war gesagt, dass ihr Vater das Meer gewesen sei. Sie wollte unbedingt wissen, warum alle Kinder Väter haben, nur sie nicht. Dann erzählte ihre Mama eine Geschichte. Sie hätte ihre Tochter bekommen, nachdem sie lange im Meer geschwommen war. Als Kind dachte sie im Ernst, dass sie aus dem Wasser stammte. Dort fühlte sie sich zu Hause. Sie sprach mit dem Meer, erzählte ihm über ihr Leben, wovon sie träumte usw. Sie glaubte, von ihm eine Antwort zu erhalten.
Sie war sieben Jahre alt, als ihre Mutter nach Hause kam und ihr mitteilte, dass sie beide verreisen mussten. Der Onkel des Mädchens wohnte in einem weit entfernten Land und hatte sie zu sich eingeladen. Plötzlich fuhren sie sehr lange, es war dem Mädchen die ganze Zeit übel. Dann erreichten sie einen Ort, in dem niemand wie sie sprach, niemand wie sie aussah. Dort war kein Meer, sehr wenig Wasser. Einmal fand sie ein winziges Meer und wollte dort schwimmen. Ihr Onkel verbot es ihr und nannte sie eine Barbarin. Ja, ihr Onkel hasste sie. Am Anfang wusste sie nicht, warum. Ihre Mutter musste jetzt noch mehr arbeiten, sie war niemals dabei.
Die Familie ihres Onkels verachtete sie. Ihre Cousinen quälten sie gern, trotzdem wurden sie von ihren Eltern nicht kritisiert. Jetzt ging sie auch zur Schule, aber sie konnte weder die Lektionen verstehen, noch selbst etwas sagen.
Eines Tages hatte sie die Nase voll. Sie wartete auf ihre Mutter, bis sie nach Hause kam. Dann brachte sie in Tränen aus und flehte die Mama an, zurück ans Meer zu fahren. Dann sah die noch junge Frau ihre Tochter seufzend an:
“Denkst du, dass dein Onkel uns hier aus Barmherzigkeit aufgenommen hat. Das war ein Befehl von deinem Großvater.”
“Ich habe einen Großvater?” fragte das Mädchen.
“Ja, und noch viele Tanten und Onkeln. Wir sind eine große Familie. Aber ich wurde verstoßen. Dein Großvater wollte uns wegschicken. Nach einem Wutausbruch drohte er, meinen Bruder auch zu enteignen, wenn er uns nicht unterbringt. Für uns gibt es kein Zurück, meine Kleine. Versuch dich einzuleben!”
Langsam begann sie, die Sprache zu verstehen. Die Sehnsucht nach dem Meer wurde immer schwächer. Schließlich fand sie neue Freunde und danach achtete sie nicht mehr auf die gemeinen Cousinen
Die ganze Geschichte erfuhr sie langsam danach. Ihr Geburt war eine Schande, sie war ein uneheliches Kind. Als es Zeit war, dass sie zur Schule ging, begannen die Dorfbewohner zu lästern. Die tugendhaften Frauen wollten nicht, dass ihre Kinder mit ihr zum Unterricht gehen. Das bekam ihr Großvater mit. Er schimpfte, dass er nicht sein ganzes Leben lang mit der Schande dieser Frau leben möchte. So wurden das kleine Mädchen und ihre Mutter weggeschickt.
“Dein Vater war ein Tourist - erzählte ihre Mutter später - Er wollte Romantik an der Meeresküste. Dann ist er gegangen. Als ich gemerkt habe, dass ich in anderen Umständen war, habe ich nicht einmal seine Adresse oder Telefonnummer gewusst. Meine Familie wollte, dass ich dich aufgebe. Da ich das nicht machen konnte, wurde ich verstoßen. Die Strandhütte war für lange Zeit verlassen, als ich dort mit einem kleinen Baby eingezogen bin. Es gab keinen Strom, kein fließendes Wasser. Damals dachte ich, das wäre genug für meine Verwandten und die Dorfbewohner.
Zurück in der Gegenwart wusste die junge Dame, das wäre nicht genug gewesen. Ihre Angehörigen vertrieben die Sünderin so weit weg, wie sie konnten. Elf Jahren später jobbte die uneheliche Tochter im Sommer in einem Restaurant, um für ihre Studienzeit zu sparen. Sie wollte eine Meeresbiologin werden. Es war fast Zeit zum Abendessen und die ersten Hungrigen stürmten das Restaurant. Wieder hatte sie viel zu tun und konnte nicht mehr in die Vergangenheit grübeln.
Als sie sich später eine Pause gönnte, erinnerte sie sich an ihren letzten Tag am Meer. Damals wollte sie nicht gehen, das Meer war stürmisch. Sie kam aus der Hütte und ging immer tiefer zwischen die Wellen. Sie trug noch ihre Klamotten und ahnte nicht, wie gefährlich das war. Dann kam ihre Mutter hinter ihr her gerannt und zog ihre Tochter zum Ufer zurück. Die Kleine weinte herzzerreißend, aber die Mutter wusste Geschichten auszudenken.
-Weißt du, meine Kleine. Das Wasser erinnert sich. Egal, wie weit wir gehen, wird das Meer deine Gestalt in Erinnerung behalten. Die Wasser geht in die Wolken, dann fällt sie als Regen zurück. Es wird nach dir suchen, jeden Tag, jede Nacht, bis es dich wieder in deinen salzigen Tränen findet. Dann findet dich das Meer wieder.
Eine kleine Träne goss sich an den Wangen der Tochter bei dieser Erinnerung. Sie wollte alles glauben, was ihre Mutter einst erzählt hatte. Sie wünschte sich, es wäre die Wahrheit gewesen. Vielleicht erinnerte sich das Meer an sie, wie sie sich daran erinnerte. Mit dieser Träne fand es sie wieder.
Fotos
Pam Patterson aus Pixabay
Petya
MEINE ERZÄHLUNGEN
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